elektromagazin KOLLEGE COMPUTER

ELEKTROMAGAZIN   - Kollege Computer -

Wolfgang Hagen

Kollege Computer statt Individualität?

Vortrag auf der Tagung ,,Hörfunk im Umbruch",
Nürnberg, 30.9.1995

Der Titel gestattet mir ein paar sehr grundsätzliche Bemerkungen über die Zukunft. ,,Kollege Computer statt Individualität" - das legt nämlich nahe, es zunächst einmal mit ein paar zentralen Vorurteilen und Mißverständnissen aufzunehmen, die eben nicht nur heute, sondern offenbar immer dann auftauchen, wenn ein Medienwechsel geschieht. Oder fragen wir einfach: Warum hat uns ein neues Medium, am Beginn seiner Entstehung, anscheinend immer schon geängstigt? Nehmen Sie nur den berühmten Karl Kraus, den radikalsten unter allen Pressekritikern zu Anfang unseres Jahrhunderts, - hätte man annehmen müssen, daß ihm das neue plärrende Medium Radio wie eine Sünde wider den publizistischen Geist erschien?

Hat Menschengeist Natur so aufgestört,
daß er sie zwingt, von allem, was da tönt,
ins taube Ohr der Menschheit zu ergießen?
Welch mißgestimmtes Maß im Allgenießen,
wie sie Musik aus allen Sphären hört
und nichts von jedem Jammer, der da stöhnt.
[1]

Karl Kraus in der ,,Fackel", Jahrgang 1925. Während er Tag für Tag dabei ist, eine buchstäbliche Fackel gegen die notorischen Sprachlügen der revolutionsschwangeren Presseöffentlichkeit zu entfachen, ein Vorschein der so dünnbrüstigen ,,Neuen Sachlichkeit", da kommt urplötzlich das quäkende Radio aus dem Äther, also von irgendwoher, in Gestalt von unhandlichen Ohrhörern, die man sich überstülpen muß - eine ebenso buchstäbliche Naturstörung von Menschenhand, was physikalisch gar keine falsche Beschreibung ist - und ergießt sich in alle Ohren mit Verlautbarungen, simplen Rufformeln und trivialen Musikveranstaltungen.

Welch mißgestimmtes Maß im Allgenießen,
wie sie Musik aus allen Sphären hört
und nichts von jedem Jammer, der da stöhnt.

Wenn ein ganz neues Medium über die Gesellschaft einbricht, wie das Radio über Karl Kraus, dann reagieren wir zunächst einmal verstört, verschreckt, aufgebracht, indigniert, enteignungsängstlich, so als nähme man uns etwas weg.

Ich hatte, heißt es in einer der frühesten Einlassungen bei Brecht, was das Radio betrifft, sofort den schrecklichen Eindruck, es sei eine unausdenkbar alte Einrichtung, die seinerzeit durch die Sintflut in Vergessenheit geraten war.[2]

Und was taten die Domherren zu Regensburg, denen 1485 die ersten Abzüge des frisch gedruckten Meßbuchs überreicht wurden? Sie prüften Druckseite für Druckseite, ob sie sich voneinander unterschieden. Es ergab sich, so werden sie zitiert, wie durch ein Wunder Gottes, daß in den Buchstaben, Silben, Wörtern, Sätzen, Punkten, Abschnitten und anderem, was dazugehört, der Druck bei allen Exemplaren und in jeder Hinsicht den Vorlagen ... unseres Domes übereinstimmte. Dafür danken wir Gott.[3] Man kann die geistlichen Herrn verstehen. Geschriebenes, das war für die Machthaber der kirchlichen Skriptorien von die Hand des Schreibers gemacht, die von Gott geführt, doch mit menschlicher Schwäche versehen ist. Wieso also nicht die Truckwerke Gutenbergs?



Truckwerke -> Wissenschaft

Das Typographeum, wie der Bielefelder Forscher Michael Giesecke die Gutenbergwelt nennt, ersetzt die Schreiber der skriptografischen Welt, und damit das Schreiben als kirchlichen Lizenzakt, einen Grundpfeiler der spätmittelalterlichen Ordnung. Aber wichtiger noch: Die Welt des Gedruckten schafft die Voraussetzungen für die moderne Wissenschaft. Giesecke zeigt, die Vielzahl der ersten Truckwerke sind nicht etwa nur Bibeln, sondern Bücher, die bis dahin nur mündlich tradierte gewerbliche Disziplinen, also Gewerke beschreiben. Anleitungen für das Pelzgewerbe, Feuerwerker, Gesprächsprosa für Ärzte, Apotheker, Schulmeister.[4] Im 16. Jahrhundert bekommt die Wissenschaft ihren großen gedruckten Speicherbauch, jetzt sind Bibliotheken mit feinsten Verästelungen möglich, jetzt ist das Derivat und die Voraussetzung des Wissens, das Geschriebene, endlich unzerstörbar, weil mehrfach, beschleunigt, potentiell überall und für jeden verfügbar. Das Druckwerk wird zur Monade des Wissens.

Der Buchdruck, von Gutenberg erdacht, um die schlechter werdende Schönschriftqualität der überforderten Schreiber wiederherzustellen, wird nun zur medialen Voraussetzung für die kopernikanische Wende. Denn diese gründet sich auf tausenden von Büchern und Periodika, angefüllt mit astronomischen Berechnungen, vom Domherr zu Frauenburg, Nikolaus Kopernikus, 1540 erstmals in sechs Büchereinbänden zusammengetragen und von Tycho Brahe und Johannes Kepler 1599 noch einmal, gründlicher, resumiert mithilfe der Materalien aus der Prager Bibliothek Kaiser Rudolfs des II. Die Bücher dieser drei waren es, die Rene Descartes um 1645 seine rationalistische Wendung des ,,Ego cogito, ergo sum"[5] niederschreiben ließ. Isaac Newton, wenige Jahrzehnte später, korrigiert diese Stelle aus dem cartesischen Buch in ,,Ego sum et Cogito"[6], was endlich alle spekulativen Zwänge aus der Physik verbannt. Es sind immer Bücher, die in Büchern und zu Büchern fortgeschrieben werden und das weiß oder hat noch heute jeder zu tun, der Wissenschaft betreibt.



Bücher zu Büchern

Was also verstört, irritiert, entsetzt uns an dem neuen Medium Computer? Eben unter anderem dies: daß das Typographeum, daß die Welt des auf Papier gedruckten und versigelten Wissens aufgeplatzt zu sein scheint, daß in ihr neuerdings ein deutlicher Riß klafft. Da gibt es bereits das Internet, von dem Sie gehört haben werden, mit derzeit 40 Millionen vernetzten Computern und da gibt es bereits erhebliche Wissensgebiete - ich greife nur, weil ich es selbst betreibe, das Wissen um die Programmierung von Computern heraus -, die nicht mehr gedruckt, sondern nur noch elektronisch kommuniziert werden. Für die neuesten Entwicklungumgebungen der Programmiersprache C++ werden die Handbücher, die ein zwei Meter langes Bücherregal füllen würden, nicht mehr ausgedruckt, sondern sind nur noch via Acrobat Reader elektronisch verfügbar. Um die zu lesen, brauchen Sie eine neue, in gewisser Weise tatsächlich akrobatische Intelligenz. Die Computer-Programmiergruppen (C, Basic, Pascal, Windows, OS2, Unix) sind die größten und meist genutzten im Internet. Das exakte Wissen um die Computer ist bereits nur noch durch Computer erreichbar.



Der Computer ist ein Medium

Was heißt das? Nun zunächst schlicht und einfach: der Computer ist ein Medium. Oder sagen wir genauer: Der Computer ist ein Medium geworden: aus einer ursprünglich nur für das Rechnen erfundenen Maschine ist inzwischen eine unaufhaltsame Medialität geworden, die alle anderen, Schrift, Druck, Ton und Bild umfaßt und neu stellt. Und wenn wir uns fragen, wohin das führen wird, ist es zunächst wichtig zu sehen, wie das Medium Computer entstanden ist und welche Eigenschaften es hat.

Computer waren und sind für sich genommen zunächst nämlich einmal nichts anderes als numerische Adressiermaschinen, die Zahlenwerte, deren Zuordnung entscheidbar ist, auch adressieren können. Es waren riesige, ja buchstäblich saalfüllende Rechenmaschinen, die man, sie erinnern sich, bis weit in die sechziger Jahre hinein noch Elektronengehirne nannte. Der amerikanische Mathematiker John von Neumann hat die prinzipielle Architektur dieser Maschinen nach einer Ideenskizze seines englischen Freundes Alan Turing entworfen, und zwar als es, im Zuge der Atombombenforschung in Los Alamos 1943, darum ging, hochkomplizierte Differentialgleichungen numerisch auszurechnen, in deren Verlauf große Zwischenwerte gespeichert werden mußten. Von Neumann, als ,,consultant" in freiwilligen Diensten des Pentagon, hatte die Aufgabe, die hydrodynamischen Zerstörungskräfte der Trinity-Explosion vom Juli 1945 auf rein mathematischer Ebene vorauszuberechnen.



Kryptografie und Hydrodynamik sind die ersten Anwendungsgebiete des Computers

Sein Mathematiker-Freund Alan Turing hatte andere Aufgaben. Er stand ebenso freiwillig in jenen Jahren in in Diensten des englischen Geheimdienstes und ließ seinen ,,Colossus"-Computer mit einigen aberhundert Röhren bestücken, um eine andere Art von Zahlen, nämlich die verschlüsselten Codes der Deutschen U-Boot-Floote zu knacken. Colossus zog in der Tat dem Zahlenräderwerk der mechanischen Enigma wohl mit kriegsentscheidend die codierten Zähne. Kryptografie und Hydrodynamik sind die ersten Anwendungsgebiete des Computers, einer Maschine, die Zahlen bekanntlich in elektrische Zustände von Aus und An, also von 0 und 1 zu zerlegen hat, für welche die Geschichte der Mathematik bereits seit Leibniz ein System entwickelt hatte, nämlich das binäre.

Mit diesem binären System hatte aber auch die Nachrichtentechnik bereits seit den 1920er Jahren Erfahrung, nämlich in der sogenannten Puls Code Modulation, kurz PCM genannt; ein Verfahren, mit dem man analoge Informations-Übertragungen auf telegrafischem Wege in digitale, also numerische Signale zerlegen konnte.[7] Das war die praktizierte Vorform der digitalen Abtastung, wie sie noch heute benutzt wird, um Klang und Bild, kurz jede Art von Frequenz in Zahlenwerte zu zerlegen. Die Mathematik dieser Digitalisierung reicht ebenfalls weit zurück. Sie beruht auf Verfahren von Napoleons liebstem Mathematiker, Josef Fourier, der die Ausbreitung von Wärme in festen Körpern beschrieb, was für die Konstruktion von großen Geschützen am Ende nicht ganz unwichtig war.[8] Vergessen wir nicht: alle neuen, zumal die elektrischen Medien seit der Telegrafie um 1830 sind im Kontext von Kriegs- und Kriegsforschung entstanden. Das seltsamerweise hat am wenigsten zu ihrer Ablehnung oder unserem Entsetzen beigetragen, wohl deshalb, weil die Öffentlichkeit davon zu wenig weiß. Wir werden darauf zurückkommen.

Parallel zum Bau der ersten Computer, am Ende des II. Weltkriegs, war auch die Nachrichtentechnik sehr grundsätzlich dabei, ihre theoretischen Verfahren einer mathematischen Grundlagenform zuzuführen. Das Standardwerk aller neuen Nachrichtentechnik, Claude Shannons Mathematical Theory of Communication stammt aus dem Jahre 1948. Jedes Erstsemester ,,Nachrichtentechnik" darf heute dieses Buch büffeln. Auch bei Shannon spielte das binäre System, also die Rückführung alle Signalformen auf Folgen von 0/1-Entscheidungen, eine wesentliche Rolle.

Ich sagte ,,alle" Signalformen, also auch die der menschlichen Sinne. Die aber sind sehr langsam und träge. Ihre und meine Schallwahrnehmung geschieht in Frequenzbereichen, die technisch vergleichsweise lächerlich sind, nämlich zwischen 30 und 18 tausend Hertz, und auch die Täuschung unserer Augen ist fast ein Kinderspiel. Mit 18 Bildchen pro Sekunde kann man uns bereits vorgaukeln, daß wir eine kontinuierliche Bewegung sähen, nur weil unsere Retina keine größere Refresh-Frequenz hat als eben 18 Hertz. Mit einem Wort: elektrische Medien hätten ihre eminent verstärkende Wirkung nicht, wäre unsere Sinne physiologisch nicht so überaus träge. Wer aber in diesen verstärkenden Medien eo ipso eine Art Human-Prothese unserer Nerven-Schwäche sieht, eine Art anthropogene Veräußerlichung unseres Zentralnervensystems, wie Marshall McLuhan es so euphorisch propagiert hat, der unterliegt einem bitteren Mißverständnis, weil er die Ambivalenz der Sache nicht sieht.

Zunächst brauchte es nach Klärung der mathematischen Grundlagen von Computer und Nachrichtentechnik am Ende der 40er Jahre immerhin noch eine gute Generation, bis beide Bereiche eine technische Symbiose eingehen konnten, und das geschah etwa Anfang der 80er Jahre. Die dreißig Jahre Aufschub haben wesentlich mit der Entwicklung des kleinen Verstärker- und Schaltbausteins namens Transistor zu tun, der ebenfalls erst 1948 entdeckt wurde. Jedenfalls hat erst die Einführung der Halbleitertechnik, der integrierten Schaltkreise, der ICs also, sowohl die Nachrichtentechnik instand gesetzt, digitale Signalverfahren massiv in Echtzeit abzuwickeln - die CD, die ,,Compact Disk" ist hier das Stichwort -, als auch den damals führenden Elektronengehirn-Giganten, also die IBM, dazu verführt, kleine Computer zu bauen, sprich den PC, der zwischen 1977 und 1981 entsteht.



Elektronengehirn + digitale Nachrichtentechnik = Medium Computer.

Die Pointe meines technisch orientierten Ausflugs in die Vergangenheit, zu dem ich Sie in den letzten paar Minuten entführt habe, soll sein: Die Entwicklung des Computers zum Medium ist ein komplexes Ensemble technischer Einzel-Prozesse, dessen tausende und abertausende von Elementen in einem Ergebnis münden, das nicht mehr ein Jemand gewollt hat und das kein einzelner, also sagen wir z.B. ,,ein ingeniöses Individuum" erfunden hätte. Auf der Suche nach dem Demiurgen, dem bösen Dämon im Computer, müssen Sie inzwischen überall zugleich hinschauen: in unseren PC, in die Telefon-Steckdose, in die Abrechnung unserer Bank, in die Armee, in die polizeiliche Ampelschaltungen oder die Rentenversicherung, überall hin. Ein Dämon, der das Medium Computer in die Welt setzte, oder auch die mcluhansche Euphorie bleiben eine furchtbar romantische Illusion.

Die harte Wahrheit dagegen lautet: Radio ist im Kern eine nachrichtentechnische Veranstaltung, und deshalb werden unsere Funkhäuser etwa seit Existenzbeginn des Mediums Anfang der 80er sowieso digitalisiert und computerisiert. Dieser Prozeß, der zunächst unsichtbar, sozusagen technisch-immanent begann, wird unser Medium am Ende grundsätzlich verändern. Wo also stehen wir auf diesem Weg?

Die Antwort heißt einstweilen: Mitten in großen Schwierigkeiten. Die EDV-Abteilungen beispielsweise, überwiegend Hausherren der alten Elektronengehirne, Buchhaltungsgroßrechner und Rechenzentren, haben oft genug versagt; denn die Großrechner-Technologie paßt nicht auf die Anpassung der tausenderlei Schnittstellen, die jetzt auf einmal wichtig werden. Und auch die klassischen technischen Bereiche, die hoheitlichen Domänen der alten Schule der Nachrichtentechnik, kamen und kommen mit den neuen Techniken nur sehr schwer klar. Warum? Digitale Verfahren erfordern neues Wissen und egalisieren es zugleich. Es sind vor allem systemische Prozesse, die hier eingeführt werden, und deshalb ganz neue Kommunikationsanteile verlangen. Strikte Hoheitlichkeiten, überkommene Standards und Normierungen wirken dabei kontraproduktiv. Vergessen wir zudem nicht die Gewerkschaften und Personalräte, die die unvermittelten Prozesse so nicht mitmachen wollen, abgesehen von jener allfälligen romantischen Dämonisierung des Mediums, die noch immer nicht erledigt ist.

Zwei Säulen unserer Institutionen, nämlich die Hoheit der Verwaltung wurde ebenso verletzt wie die Hoheit der Technik



Das Medium Computer befindet sich auf dem Entwicklungsniveau des Fernsehens von 1935

Was die Sachlage noch kompliziert, ist ein Blick auf den Entwicklungsstand der neuen digitalen Medienwelt. Das Medium Computer, so klar sein Eingriff in die bestehende Medienwelt auch ist, befindet sich dennoch heute, 1995, immer noch auf einem Entwicklungs-Niveau, den etwa das Medium Fernsehen, ganz am Anfang, also etwa auf der Funkausstellung 1935 vorweisen konnte. Damals zeigte man stolz ein 180er Zeilenbild, eine 19 Zentimeter große, klobige Rechteckbildröhre und Kameras, die von drei ausgewachsenen Männern bedient werden mußten, es gab keine Aufzeichnungsverfahren und nur sehr unzureichende Übertragungswege auf UKW, dort also, wo heute unser Hörfunk läuft. Niemand hätte vorhersehen können, was in zwei Generationen mit diesem Medium passiert ist. Manfred von Ardenne und Walter Bruch konnten damals gerade mal 10 Jahre überblicken und sorgten immerhin dafür, daß die Starts der A4 und V2 in Penemünde 1943/44 via Monitor verfolgt werden konnten. Sowie damals, 1935, die Technik der kurzen Schalt- und Sendefrequenzen etwa nur bis zum Meterbereich ausgereift war, aber erst im Zentimeterwellenband das Fernsehen sendefähig wird, so sind es heute die extrem langsamen Netze, die das Medium Computer in seiner Ausbreitung behindern. Das Multi-Medium Computer für alle Haushalte setzt Netzkapazitäten voraus, die viel tausendfach größer sein müssen als das heutige ISDN.



Im Hörfunk werden seit zehn Jahren die Programmredaktionen durchgerüttelt wie noch nie

Bevor wir aber, in Bezug auf das Medium Computer, dennoch eine Vorausschau wagen, ist ein Wort über die dritte Säule von Hörfunk und Fernsehen fällig, nämlich die Programmredaktionen. Die Programmredaktionen waren es, die die primären Medien, erst Hörfunk dann Fernsehen, groß gemacht haben, und viele von uns fragen sich nun, was aus uns werden soll. Besonders im Hörfunk werden seit zehn Jahren die Programmredaktionen durchgerüttelt wie noch nie, was freilich auch mit den massiven nachrichtentechnischen Einschnitten der frühen 80er Jahre zu tun hat. Damals nämlich wurden um UKW-Frequenzband durch neue technische Verfahren die vormals von der Flugsicherung benutzten Kanäle jenseits 100 MHz frei, und damit mittels technischer Entropie und nichts sonst die Bresche für das duale System geschlagen. Ich folge hier der These des ZDF-Intendants Dieter Stolte, der die Einführung des dualen Systems für einen wesentlich technischen induzierten Prozeß erklärt hat, den die Politik bis heute nicht sinnvoll in der Lage ist zu gestalten. Ich gebe ihm recht.

Voraussetzung und Effekt der Einführung des dualen Systems ist die Vervielfältigung der Übertragungskanäle unserer alten Medien Hörfunk und Fernsehen bei gleichzeitig kaum steigender Nutzung derselben. Das und nichts sonst, kein Kollege Computer und kein Ministerpräsident Albrecht hat die Individualität unserer alten Programmschemata zerstört. Wir haben die Blas- und Volksmusiksendungen, den Schlager und die Tanzmusik zum Tee in unsere ,,älteren Wellen" verbannt, nehmen sie das Beispiel WDR 4. Und wir haben unsere klassische Musik aus den Kulturprogrammen herausgeschält, nehmen Sie das Beispiel Bayern 4. Wir haben die Nachrichten- und Aktualitätsprogramme in unsere Info-Kanäle gebündelt, MDR-Info, SFB-Info, Bayern 5. Wir haben unsere Jugendsendungen extegriert und sie in ,,junge Wellen" verwandelt, siehe NJoy-Radio, Fritz und Bremen Vier. Und wir haben regionalisiert, von Welle Nord bis SDR 1, wir wollen den Migranten und Gastarbeitern ,,Multi-Kulti" (oder das ,,Funkhaus Europa,,) anbieten und haben einen Staatsvertrag für ein nationales Kulturprogramm (Deutschland Radio Berlin) erwirkt. Kurz: wir haben der Vervielfältigung der Kanäle Rechnung getragen und die Individualität der alten ,,Leitprogramme" zerstören müssen, in denen auf die ,,Frühmusik mit Schlagern" der Morgenchoral folgte, und darauf der Schulfunk, das orchestrale Mittagskonzert, dann Tanzmusik zum Tee, das ,,Echo des Tages" der Politik und schließlich abends abwechselnd das klassische Konzert, das große Kriminal-Hörspiel oder der bunte Abend mit ,,Allein gegen alle".

Wir haben der Vervielfältigung der Kanäle Rechnung getragen und die Individualität der alten ,,Leitprogramme" zerstören müssen. Aber: wenn diese Ent-Individualisierung erzwungen ist, lag nicht auch schon hinter der Individualisierung ein Zwang? Die Individualität unseres Mediums Hörfunk - sagen wir: Stand 1965 - bestand darin, daß disparateste Programmelemente friedlich unter einem Dach versammelt waren, unter einem Vertrag, wenn sie so wollen, der einer Auslegung des öffentlich-rechtlichen Auftrags entsprach, ganz so wie es Hobbes oder Rousseau für die Individuen des aufgeklärten Absolutismus sahen.

Die Individuen, die individuellen Redaktionen, wurden aus dem gemeinsamen Progammvertrag herausgelöst und, wenn man so will, neuen Volksstämmen, den zielgruppenorientierten ,,Wellen" genannt, zuorganisiert, die mehr und mehr sich selbst verwalten.

Der Rousseausche Gesellschaftsvertrag sollte die Individuen versammeln, indem er sie schuf; Individuen, die an sich weder des Staates noch der Gesellschaft bedurften. Gegenstand des Vertrages war die individuelle Autarkie und ihre Beschränkung zugunsten des Allgemeinen. In diesem wohlaufgeklärten Geist fanden auch, ich erinnere mich, die alten Programmkonferenzen bei Radio Bremen, beim SFB und WDR statt, wenn die verschiedenen Redaktionen, oft ein Vierteljahr im voraus, wöchentlich ihre Vorhaben erläuterten, das entsprechende Getuschel und die versteckte, oft häßliche Häme inklusive. Trotz allem beruhte der öffentlich-rechtliche Auftrag ganz wesentlich auf diesem stillschweigend mitgemeinten, fairen und Individualität garantierenden inneren Programmvertrag. Damit ist es vorbei, nicht rechtlich, aber faktisch. Der Verlust dieses aufgeklärten Instituts der allgemeinsamen Programmsitzung tut noch heute den älteren Kollegen so sehr weh, daß sie sich kaum an die neue offensichtliche Unordnung gewöhnen können.

Jetzt nämlich arbeiten beispielsweise in einem Haus vier Programme nebeneinander her, die - diesseits der gemeinsamen Grundversorgung - nichts mehr direkt mit diesem ,,contrat sociale", mit diesem inneren Programmvertrag zu tun haben. Der ist mangels Gegenstand aufgelöst. Da sind nun die Immergleichen je für sich: die von ,,Bremen Vier", der Jugendwelle, die von ,,Bremen Melodie", der Altenwelle, die ,,Kulturfuzzis" von Bremen Zwei und die fröhlichen Mitvierziger der regionalen ,,Hansawelle". Mutatis mutandis ähnlich in allen öffentlich-rechtlichen Häusern.



Die Individualität unserer Programme war ein Nachkriegs-Effekt der Frequenzmangelwirtschaft

Haben wir nun alles falsch gemacht? Oder haben wir nur manches nicht richtig gemacht? Ich bleibe bei meiner nüchternen These: die weite Vielfalt der Übertragungskanäle war und ist ein massiver technischer Effekt, auf den wir keinen Einfluß hatten, ganz so wie die enge Vielfalt, die Frequenzknappheit nach 1945, eine gegebene, auf die Kriegstechnik folgende Mangelbedingung war. Letztere hat einen inneren Programmvertrag nötig gemacht, der heute in Auflösung begriffen ist. Die besondere Individualität unserer Programme, das ausgewogene Versammeln der Einzelnen im allgemeinen Programmrahmen, die Illusionen der rousseauistischen Vernunft, war ein schlichter, wenn auch sehr glücklicher Nachkriegs-Effekt der Frequenzmangelwirtschaft, und keine freie Entscheidungstat. Sowie die Vereinzelung der Programminhalte in drei, vier, fünf Programmen heute kein actus purus ist, sondern ein erzwungener Effekt der Frequenzvielfalt.

Hinter all dem steht eben keine kulturstrategische Absicht, sondern technische Entropie, eine schlichte Ausweitung der Technik als Technik. Der entscheidende Punkt für die Redaktionen ist, daß sich nicht nur ihr innerer Zusammenhalt, ihr ursprüngliches Berufsbild, ihr weitgehend nach innen gerichtetes Ziel geändert hat; eine wichtige Folge ist auch, daß die demokratische Kontrolle des inneren Programmvertrags durch die Gremien ein Mindestmaß an Interaktion oder zumindest intendierter Interaktion zuließ, die nunmehr abebbt.



Der Kontrollmechanismus heißt Demoskopie

Der Kontrollmechanismus, den die Gesellschaft für unsere neue Kanalherrlichkeit bereithält, heißt Demoskopie oder im Rundfunkdeutsch ,,MA"= Media Analyse. Ich will nicht über privatwirtschaftliche Veranstalter reden, für die demoskopischen Quote über Sein oder Nichtsein entscheiden. Aber auch öffentlich-rechtliche Gremisten lesen heute die MA-Zahlen, die Statistiken der Media-Analyse, wo sie gestern bestenfalls die Kommentare der Chefredakteure lasen. Immer noch spielen in öffentlich-rechtlichen Aufsichtsgremien Parteibücher und entsprechend gefärbte Einflußnahmen eine erhebliche Rolle, aber mehr und mehr an Bedeutung gewinnt: die Quote.

Quoten, Prozente, Reichweitenzahl der einzelnen Programme bemessen sich bekanntlich nach mathematischen Verfahren eines gewissen Paul Lazarsfeld, dem Begründer der Demoskopie, der diese Wissenschaft übrigens mit einer Radiountersuchung, der österreichischen RAVAG-Analyse von 1931, begründet hat. Lazarsfeld war Mathematiker und übernahm seine Methoden aus der physikalischen Thermodynamik, also aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung molekularer Bewegungen. Sie können sich vorstellen, daß Zahlen solcher Herkunft von unseren Redaktionen eher gemieden und ganz grundsätzlich bestritten werden.

Die Statistik molekularer Entscheidungen, nicht also wohin sich das einzelne Molekül bewegen wird - das kann man nie wissen -, wohl aber wohin sich die Masse der Moleküle bewegt, was weitgehend vorhersagbar ist, - das ist die Demoskopie.

Und doch fällt es schwer, der Gesellschaft dieses neue Kontrollelement ihrer selbst - und nichts anderes ist die Demoskopie - rundweg zu versagen. Wir können nicht auf der einen Seite jede Klimaschwankung der SPD, jeden Aktzeptanzverlust der Freidemokraten, das Anwachsen rechtsradikaler Strömungen oder jede neue Popularitätskurve Helmut Kohls weidlich in unsere Programmen diskutieren und im Zweifel mit den größten Mahnungen versehen; wir können nicht Wahlausgänge mit Fehlertoleranzen von unter 3 Prozent bereits um 18 Uhr vorhersagen wollen, um andererseits dasselbe Instrument, auf uns angewandt, zu verteufeln. Die Demoskopie reduziert zwar den Akt demokratischer Wahlentscheidungen auf die Basis von Molekularbewegungen, aber die Bewegung eines einzelnen Moleküls, das wußte schon ein anderer Dämon, nämlich der Maxwellsche, ist eben nichts anderes als eine individuelle Wahl, eine prinzipiell unvorhersagbare Entscheidung. Die Statistik molekularer Entscheidungen, nicht also wohin sich das einzelne Molekül bewegen wird - das kann man nie wissen -, wohl aber wohin sich die Masse der Moleküle bewegt, was weitgehend vorhersagbar ist, - das ist die Demoskopie.

Tatsache bleibt: Während die Tradition des inneren Programmvertrags in unseren Häusern an Bedeutung verliert, während der öffentliche Diskurs über unsere Programinhalte in den Gremien an Bedeutung verliert, wächst die Kontrollinstanz Demoskopie. Das hat auch Vorteile. Denn aus den Statistiken erfahren die Redaktionen etwas über ihre Hörer, bzw. besser über die Masse der Hörer, was viele vorher sub specie des Programmvertrags schlicht ignorieren konnten. Nämlich zum Beispiel, daß nur ein hoher Musikanteil in einer Welle steigerbaren Massenzuspruch bringt und zudem nur solche Programme Erfolge zeitigen, die rund um die Uhr eine verläßlich einheitliche Musikfarbe haben. Die Media-Analysen haben also einen bis dahin weitgehend unbeachteten Trägheitseffekt offenbart, den die Masse der Hörer demoskopisch äußert: daß sie nämlich, offenbar überfordert von der Vielfalt des Angebotenen, eher dazu neigen, immer dasselbe hören zu wollen; und daß dies Selbe vorzugsweise allseits bekannte Musik sein muß, während reine Wortprogramme, so intelligent sie auch geplant sein mögen, eine vergleichbar massige Anziehungskraft niemals entwickeln können. Wir lernen also, was der Trägheitseffekt des einzelnen Hörer-Menschen ist, wenn er sich wie ein Massenmolekül zu verhalten beginnt, wozu ihn die Entwicklung der elektonischen Medien offenbar drängt.



Das Medium Computer hat von zentralen Verfahren des Radios Besitz ergriffen

Komplementär zur wachsenden demoskopischen Kontrolle unserer Medien hat das Medium Computer mehr und mehr von zentralen Verfahren des Radios Besitz ergriffen. Computerverfahren sind dabei, klassische Berufsbilder in der Redaktionen aufzulösen, zum Beispiel das des Musikredakteurs. ,,Computergestützte Musikplanung" heißt das Stichwort, die inzwischen in nahezu allen musik- und erfolgsorientierten Rundfunkprogramme auch der ARD eingerichtet sind. An der Stelle des umfaßend gebildeten und sehr individualistischen Pop- oder L-Musikredakteurs der 70er Jahre arbeitet nun ein PC-kundiger Systemadministrator, ein musikalisch gebildeten Systemingenieur. Ein ähnliches Schiksal haben längst auch Toningeneure, Tonmeister, Komponisten und Arrangeure erfahren. Computergestützte Musikplanungen aber gibt es deshalb, damit nicht nur einzelne Sendungen, sondern ein ganzes 24 Stunden Programm eine einheitliche Musikfarbe erhält, also aus letztlich demoskopischen Rücksichten. Diese Radio-Musik besteht oft nur aus ein paar tausend Titeln und operiert mit einer hohen Rotation, heißt Wiederkehr des einzelnen Titels. Ein einzelner Mensch kann aber nicht 24 Stunden Musikfahrpläne erarbeiten und auch zwei oder drei einzelne Redakteure, wennıs denn sehr einheitlich sein soll, ersticken in unüberwindlichen Abstimmungschwierigkeiten. Wenn dann auch noch die Anzahl der gespielten Titel beliebig klein und überschaubar bleiben soll, dann ist das menschliche Hirn ungeeignet für all die Bedingungen und Verzweigungen, die für die Planung nötig sind. Hier springt die relationale Rechenkraft des Computers ein, sie heißt bei uns ,,Selector" oder ,,Broadcast Commander" oder ,,Repertoire für Windows".

Erfolgreiches Radio ist heute musikorientiertes Unterhaltungsradio und Administratoren erfolgreicher Programme setzen auf ,,tonality". Im Hörspiel-Deutsch hieß das einmal ,,Anmutung", also: die ,,Verpackung", Gestaltungselemente, ,,Jingles", ,,Bumper", ,,Betten" und ,,Stinger", wie die Moderatorenstimme sich hineinfügt und auch der versteckte Witz des Mini-Hörspiels zählen dazu. Massiv ins Gewicht schlägt zudem das epidemische ,,Sich-Hören-Wollen" des Hörers in einer nicht enden wollenden Radiospiel- und Mitmachsucht inklusive manifester Geldverschenke, bis an die Grenze zum offen chauvinistischen Audio-Voyeurismus, wie er derzeit in Amerika grassiert. Die Redaktionen lernen dabei: das Radio befriedigt geheime Affekte des Einzelnen, der sich hinter sich selbst als molekularem Massenhörer zu verstecken scheint, um dort, bis an die Schwelle der Sucht, scheinbar jenem Recht aufıs Dumm-Geblieben-Sein sich hinzugeben, das die Gesellschaft sonst sosehr verdammt und sanktioniert; vielleicht weil eben die Gesellschaft in zu vielen Teilen zu viele Menschen genau zu diesem Dumm-Geblieben-Sein verdammt.



Das Radio befriedigt geheime Affekte einzelner

Das heute erfolgreiche Unterhaltungsradio ist ein aufwendiger Mehrspurmix aus Geräusch, Sound, Jingle, vorproduzierten Elementen und Live-Aktionen, die auf die Sekunde genau kalkuliert sein wollen, und dazu - wiederum - kommt das Medium Computer zum Einsatz. Zwei Radiosender im Norden der Republik, NDR5, genannt NJoy-Radio und Radio Bremen 4 sind seit längerem voll digitalisiert, d.h. alles, Musik, Jingle, Beiträge, Stinger, Bumper und Trailer kommen von einem einheitlichen Tonträger, nämlich aus dem Rechner, bis auf die Live-Moderation. Der Computer greift wahlfrei und vernetzt auf seine Server zu und gestaltet eine ausgetüftelte Kaskade von ,,Audio on Time"-Elementen, die den Moderator zum Assistenten des computergestützten Ablaufs werden lassen und nicht umgekehrt.

Wenn der Sendeablauf digitalisiert ist, muß es auch die Produktion sein. Digitale Produktionsverfahren haben in der E-Musik vor Jahren schon Einzug gehalten. Nun bauen wir Programmmacher die auch Wort-Aktualitätenspeicher auf, vernetzen die Büros, um Redakteure am Bildschirm den Wort-Digitalschnitt zu ermöglichen, setzen Reporter vor die übereinanderliegenden Sample-Kästchen des ,,Cutmaster". Korrespondenten geben produzieren ihre Beiträge am Bildschirm und setzen sie über digitale ,,Musiktaxis" ab, aus denen es, via Telefonleitung, wie in Studioqualität klingt. Es gibt Tage in unserem Programm, da kommt nicht mehr ein Zentimeter Schnürsenkel, also Tonband zum Einsatz, die Plattenspieler stehen still, kein CD-Player wurde angeschaltet, das Radio kommt aus den Computer-Systemen. Sendebegleitende Tontechniker gibt es nicht mehr, entweder sie werden Spezialisten der digitalen Produktion oder sie werden - Journalisten mit technischen Aufgaben.

Und wenn wir nun auch, wovon Professor Müller-Römer träumt, das ,,Digital Audio Broadcasting" flächendeckend hätten, dann wäre der digitale Kreis, der eher wohl eine Schleife der Berechenbarkeit ist, auch zum Hörer hin geschlossen. Wir träfen ihn in seinen Massenmolekeln auf 15 km Umkreis genau, könnten ihm regionale Sondermeldungen, ja sogar regionale Audiofenster anbieten; wir könnten seine Autos von den Staus weglenken und ihm englische Texte simultan auf deutsch anzeigen; aus unseren Programmen würde eine Programmmultiplex mit beliebig hohem, zusätzlich gestaltbaren Informationsgehalt. Das könnte alles werden, aber ist es die Zukunft?



Das System der industriellen Produktion wird abgelöst von einem System informationeller Produktion

Bleiben wir zunächst dabei, was wir schon wissen können. Das Medium Computer hat von unseren westlichen Industriegesellschaften Besitz ergriffen und ist dabei, uns in einen Lernprozeß zu verwickeln. Wir lernen, wie das System der industriellen Produktion, die seit Adam Smith auf den Faktor der individuellen Arbeit basiert, Schritt für Schritt abgelöst wird von einem System informationeller Produktion, das auf dem Faktor der interaktiven Kommunikation basiert. Natürlich muß immer noch gearbeitet und industriell produziert werden: Werkzeug- und Baumaschinen, Autos, Stühle, Tische, Fernsehgeräte, - aber die Produktionsverfahren selbst basieren auf Robotics, Systemplanung und Fertigungssteuerung, die nicht anderes als informationelle Systeme repräsentieren. Wir wissen inzwischen auch, daß solche Systeme, wenn sie funktionieren sollen, stark interaktiv sein müssen, daß für sie nur sehr wenige zentrale Vorgaben existieren und sie starke ,,autopoetische", also aus dem Prozeß der Kommunikation selbst zu entscheidende Elemente enthalten. Damit werden die produktionellen Systeme unserer Informationsgesellschaft beliebig komplex und diese hohe Komplexität kann wiederum nur abgebildet, d.h. reduziert werden, durch das Medium Computer.

Wenn aber nicht mehr handwerkliche Fertigungsfähigkeit einer individuellen Arbeit, sondern informationelle Kompetenz von gewerblich spezialisierten Kommunikatoren erforderlich ist und wir bereits wissen, daß das Medium dieser Kompetenz der Computer ist; wenn wir also sehen, daß auch in unseren Medien der Berufsbildwechsel von Tontechnikern und Redakteuren genau denselben Weg nimmt wie beim Dreher oder Ingenieur von Daimler Benz; wenn wir endlich sehen, daß bei uns die im Prinzip gleichen PC`s stehen, die die Sendungsabläufe steuern wie bei Daimler, wo sie Fertigungssteuerung leisten, dann wage ich zu vermuten, daß nicht unsere Medien, Hörfunk und Fernsehen, es sind, denen die weitere Zukunft primär gehört, sondern dem wesentlich interaktiven Medium namens Computer.

Vor dem Horizont dieses neuen Mediums kranken die unseren alten Medien überdeutlich an ihrem alten Leid: Hörfunk und Fernsehen sind unidirektional, ein-seitig oder ein-wegig. Das hat zugenommen. Belehrende Formen, also Schulfunk, Fernkollege und ähnliche, immerhin schwach interaktive Formen, die wir über Jahrzehnte mit viel Geld gepflegt haben, sind heute ausgestorben, einfach weil die Rückkoppelungszeiten dieser Lern- und Belehrformen auf diesem Wege inzwischen hoffnungslos langsam erscheinen.

Die Vervielfältigung der Übertragungskanäle hat diese Wirkung noch verstärkt. Die massenästhetischen Steuerungsmechanismen via Demoskopie, die ich Ihnen beschrieben habe, steuern bei den Hörern und Sehern durch die einwegige Kanalvielfalt noch mehr als früher solche molare Verhaltensweisen, deren mythisch-rituelle Momente Elias Canetti schon vor Jahrzehnten zusammengetragen hat: blinde Flucht und Sucht, Verbots- und Übertretungslust, Jagd, Sensation, Klage, Krieg, Triumph und Meute[9]. Je mehr Kanäle zum ,,Zappen", umso passiver die Massenrezeption dieses einwegigen, terrestrischen Mediums.

Einige Medienkritiker meinen, die unbezweifelbar sedierenden Effekte der medialen Bilder- und Soundkanalfluten sei einer Gesellschaft adäquat, die permanent einige Millionen real passiv mache, indem sie sie arbeitslos auf die Strasse setzt. Dieses Postman`sche ,,Wir amüsieren uns zu Tode,,-Argument wird von vielen in der SPD und bei den Grünen geteilt, so als würden die Menschen aufwachen und um ihre Rechte kämpfen ohne die Medienvielfalt. Oder nehmen wir die radikal-philosophische Medienattacke der neuen intellektuellen rechten Fundamentalisten: Das Regime der telekratischen Öffentlichkeit, sagt Botho Strauss, ist die unblutigste Gewaltherrschaft und zugleich der umfassenste Totalitarismus der Geschichte. Es braucht keine Köpfe rollen zu lassen, es macht sie überflüssig.[10] Die linke wie die rechte Kritik geht, wie ich meine, an einem wesentlichen Wirklichkeits-Charakter unserer Medien vorbei, indem sie unterstellt, ein öffentlicher Diskurs der Gesellschaft über ihre elektronischen Medien könnte die Sache grundsätzlich in eine andere Richtung steuern.

Elektronische Medien sind aber, unterhalb des sozialen Scheins ihren Inhalts- und Bilderfluten, nicht so sehr gesellschaftliche, sondern eher technische Effekte und Artefakte. Das erschwert ihre Steuerung, die immer schon umgekehrt geschieht. Die unaufhaltsame Halbwertzeit zum Beispiel eines wachsenden Ozonlochs wird uns vermutlich noch hautnah spüren lassen, daß den hochindustrialisierten Gesellschaften die Technik, und eben nicht nur die Technik der Medien, schon seit längerem aus den Händen geglitten ist. Nicht erst seit heute ist Technik eher Bedingung des Sozialen und nicht das Soziale Bedingung der Technik. In dieser grundlegenden Diagnose stimme ich den Medienkritikern der Linken wie der Rechten zu. Ich will es noch pointieren und komme also darauf zurück: alle unsere elektrischen Schlüsselmedien, von der Telegrafie angefangen, entstanden jeweils in Zeiten, da die Gesellschaften ihre sämtliche Kraft in technische Entwicklungen warfen, die ursprünglich nicht sozialen Konstruktionsentwürfen, sondern militärischen Destruktionszielen dienten, so zuletzt, vor fünfzig Jahren, in Los Alamos, wo nur für Bau der Atombombe 25 tausend Wissenschaftler und Techniker zusammengezogen wurden. Aus diesem 2-Milliarden- Dollar-Projekt entstammt der Computer.

An Motiven für einen neuen oder alten, linken oder rechten technikfeindlichen Fundamentalismus mangelt es also nicht. Und dennoch verfällt dieser Fundamentalismus selbst immer noch jener bereits benannten dämonisierenden Sozialromantik ebenso hoffnungslos, solange wir nicht die technische Entwicklung, also auch die unserer Medien, in genau den Strukturen zu fassen kriegen und da korrigieren, wo sie zu fassen sind.

Bleiben wir also beispielsweise im Militärischen und nehmen zur Kenntnis, daß auch hier sehr deutlich der Medienwechsel spürbar wird. Denn zwar ist die Herkunft des Computer noch unmittelbar militärisch, aber die Versuche, die Entwicklung des Mediums Computer rein militärisch zu gestalten, sind seit Ende der 60er Jahre nur noch gescheitert. Die letzte pentagon-eigene Computersoftware, nämlich das Riesenprojekt der Steuerung des legendären Überfalls der Amerikaner auf Grenada von Washington aus, endete in einer desaströsen Katastrophe, computerlogitisch gesehen. Daraufhin haben die Militärs im Golfkrieg, bei Computern, Software und Netzen erstmals weitgehend zivile Handelsware benutzt. Das Medium Computer ist zu komplex, d.h. es ist in seiner Entwicklung zu sehr auf zig-millionfache Kommunikation und Interaktion angewiesen, als daß eine rein militärische Entwicklung hier überhaupt noch möglich wäre.

Darin liegt eine gewisse Chance, was die politische Dimension der Entwicklung betrifft. Man kann jetzt noch darüber streiten, ob es, jenseits der Jahrhundertwende, eher ein paar hundert erdumkreisende Satelliten sein werden, die uns über schmalbandige Telefonrückleitungen die Netztechnik von Multimedia liefern, oder ob es die massiv bidirektionalen Lichtleiter sein werden, die jetzt schon die VEBACOM auf ihren Strommasten und BAHN AG entlang ihrer Schienenwege installiert hat und zu den Haushalten führen will. Die technischen Multimedia-Standards, also Integration von Bild, Grafik, Ton und Text sind auf einem isolierten Computersystem heute bereits weitgehend gelöst. Das Ergebnis der mathematischen Algorithmen dieser Integration können Sie im schon im Kino bewundern: ,,Jurassic Park" oder ,,Caspar".

Hoch-vernetztes Multimedia aber heißt: die Gesellschaft bekommt die Basis, die Entwicklung ihrer technischen Systeme in vollem Umfang zu kontrollieren, und zwar demokratisch, weil jedes Element der Entwicklung selbst zum Gegenstand der Kommunikation werden muß. Das ist keine Utopie, sondern schlichter, immanenter Zwang, der natürlich keinen Automatismus der Vermeidung all der Desaster bedeutet, die uns weiterhin drohen. Das ebenfalls romantische Wort Hölderlins: ,,Wo die Gefahr ist, wächst das Rettende auch", bleibt solange bedeutungslos, wie wir diese neue Basis einer weltumspannenden, demokratisch kontrollierbaren Kommunikation nicht auch von uns aus erstreiten und gestalten. Es wird immer und immer genug ,,Agenten im Netz" geben, die die nötige und gegebene Transparenz des neuen Medium ausbeuten und verhindern werden. Der Computer ist, wie gesagt, ein ursprünglich kryptoanalytischer Apparat, und sein Medium kann sicherlich ebensoviel verbergen wir offenbaren. Das kommt darauf an, wie die Netze organisiert sein werden.

Fernsehen und Radio werden in den Netzen dieses neuen Primärmediums die Rolle von Sekundärmedien spielen. Die Frage ist weniger ob als wann. Das ist der zweite Grund, warum ich dafür plädiere, daß auch das öffentlich-rechtliche System schnell in diesen Sektor investiert. Es wird ein primäres Medium sein, weil es den interaktiven Zugang zu allen anderen bietet, deren Möglichkeiten es damit zugleich erweitert. Nie hat man besser, d.h. mit mehr Möglichkeiten des Schreibens geschrieben als am PC und man wird besseres, phantasiereicheres, spannenderes Radio und Fernsehen unter dem Dach von Multimedia machen können als zuvor. Und mehr noch: Multimediale Telearbeit, vernetzte Heimarbeitsplätze werden neue Arbeitsmärkte schaffen; multimediales Telestudium wird die aus den Nähten platzenden Hochschulen entlasten, Teleshopping, Telebanking und ähnliches mehr wird im Konsumsektor das Übrige tun. Und vergessen wir, was die Freizeitwelt betrifft, nicht: schon jetzt ist der Videomarkt ein schlichter Aufstand gegen die uni-direktionale Medienversorgung und die langweilige Wiederholung immer derselben Filmpakete. Er wird vervielfacht werden durch Video on Demand, Pay per View und andere interaktive Choice-Systeme.

Das öffentliche-rechtliche System der Bundesrepublik, mit derzeit 8 Milliarden Gebühren pro Jahr, ist deshalb zu seiner Stärke gekommen, die es noch hat, weil es, seit 1945, immer jeweils das primäre Medium unter seinem Dach entwickeln konnte. Zunächst das UKW-Radio ab 1950, dann gleich darauf das Fernsehen. Die Verfassungsgerichte haben uns die Gebühren weiter zugesprochen, weil wir, aufgrund dieser Pionierleistungen, heute die mediale Grundversorgung unseres Landes im elektronischen Bereich immer noch am besten bieten können.

Was ein interaktives Multimedia anzubieten hat, wird allerdings mehr als Grundversorgung sein, jedenfalls nicht weniger. Wenn es nun nicht wir sind, die Öffentlich-Rechtlichen, die für das neue kommende primäre Medium abermals eine Pionierfunktion übernehmen, dann werden wir irgendwann, vielleicht schon in wenigen Jahren, die Gebühren verlieren müssen; denn dann haben andere unsere Aufgabe erfüllt.


Fußnoten

[1] zit nach: Irmela Schneider (Hg): Radio-Kultur in der Weimarer Republik, Tübingen 1984, S. 37

[2] Bertolt Brecht, Radiotheorie, in: Gesammelte Werke Bd. 18, Frankfurt 1967, S. 119

[3] Michael Giesecke: Der Buchdruck in der Frühen Neuzeit, Frankfurt 1992, S. 145

[4] Michael Giesecke: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft, Frankfurt 1992, S. 99ff

[5] Principia Philosophiae, I, 7. Die beste, dem cartestischen Text folgende Übersetzung dieses Satzes stammt von Lacan: ,,Entweder ich denke nicht, oder ich bin nicht.," Descartes schließt ja bekanntlich aus der Unverneinbarkeit der Folge ,,ergo sum", daß eine ,,res cogitans" existiere.

[6] Nach Gideon Freudenthal: Atom und Individuum im Zeitalter Newtons, Frankfurt 1982, 266

[7] Friedrich Wilhelm Hagemeyer: Die Entstehung von Informationskonzepten in der Nachrichtentechnik, Phil. Diss. Berlin 1979

[8] Robert Marc Friedman: the Creation of a New Science: Joseph Fourierıs Analytical Theory of Heat, in: Historical Studies in the Physical Sciences, 7, 1977, S. 73-99

[9] Elias Canetti: Masse und Macht, (1960) Frankfurt 1980,

[10] Botho Strauss: Anschwellender Bocksgesang, DER SPIEGEL 6/1993 - S. 207 deg.



Dr. Wolfgang Hagen war als Kulturredakteur, dann als Hauptabteilungsleiter Leichte Musik und ist jetzt als Wellenchef des Jugendsenders Radio Bremen Vier im Rundfunk tätig.