Neues Medium - neue Kunstform?

Zur Einwirkung des Internet auf die Literatur des
Typographeums

Vortrag auf dem Internationalen Kolloquium
Globalisierung - eine Herausforderung für die Literatur?"
Saarbrücken, 17.-20.06.1998

Von Hermann Rotermund

Der Titel dieses Beitrags endet mit einem Fragezeichen: Neues Medium - neue Kunstform?" Ich möchte also fragen , ob und in welcher Weise die theoretisch durch Turing und Shannon eingeleitete epochale Medienwende, die wir zur Zeit erleben, auf die Literatur des typographischen Systems einwirkt.

Das globale Stichwort Internet" kennzeichnet den medialen Zustand der Welt nur unzureichend. Das Internet bringt nur zum Vorschein, und das häufig noch auf eine unvollkommene und beschwerliche Weise, daß wesentliche Wissens- und Informationsspeicher der Welt bereits von Universalmaschinen verarbeitet wurden, ganz gleich, welcher Art die Quellen zur Zeit ihrer Entstehung waren. Über das Computernetz können nur Informationen abgerufen und ausgetauscht werden, die ein digitales Format haben.

An dieser Stelle wäre eine Beschäftigung mit dem reizvollen erkenntnistheoretischen Problem möglich, ob alles, was in der Welt erlebbar ist, digitalisiert werden kann. Das würde in letzter Konsequenz bedeuten, daß sich unser Erleben komplett aus einer digitalen Aufzeichnung bestreiten ließe, die dem signalverarbeitenden System unseres Gehirns nur in geeigneter Form übergeben werden müßte. Ein radikaler Konstruktivist, der die Erkenntnisse der neueren Gehirnforschung verarbeitet, wird die Frage möglicherweise bejahen müssen.

Wir können uns hier jedoch auf eine einfachere Aussage zurückziehen: Jede Idee, die mit einem technischen Aufzeichnungsgerät aufgenommen oder transformiert werden kann, läßt sich digital übermitteln. Die Kunst hat eine Reihe recht sperriger Formate entwickelt - denken wir an die Bildhauerei oder die Architektur -, so daß hier nur die Skizze oder der Bauplan, die Konstruktionsanweisung und schließlich die Abbildung des fertigen Objekts digitalisiert werden kann. Ein Steinbruch, ein Sumpf, ein Holzweg sind nicht digitalisierbar. Es genügt allerdings vielen Menschen seit jeher, sich mit der Idee des Holzwegs zu beschäftigen, statt ihm im Walde zu folgen.

Ich möchte zu den Medien zurückkehren und eine kurze Charakterisierung des typographischen Systems versuchen. Die Epochenunterscheidung - orale, skriptographische und typographische Epoche - ist im einzelnen sicher umstritten, bietet jedoch meines Erachtens ein brauchbares Schema, um einige Hauptzüge der aktuellen Mediensituation herauszuarbeiten. Man muß nicht der eher intuitiven Theoriebildung von Marshall McLuhan folgen, um festzuhalten, daß der Eintritt in die Gutenberg-Galaxis", also die typographische Wende in der Schriftkultur die kopernikanische Wende der Wissenschaften erst möglich und wirksam machte. 1 Die erweiterte Verbreitung der handschriftlichen Wissensspeicher und die rasche Entstehung neuer Wissenszweige ist eine häufig dargestellte Seite des Prozesses. Er wurde durch die Ausdifferenzierung neuer Kunstformen bzw. Anstöße zur Weiterentwicklung vorhandener Formen begleitet. Die Aufführungspraxis von Unterhaltungs­-künstlern (Sängern, Erzählern und Schauspielern), die durchaus scriptographisch gestützt war, wurde ergänzt und schließlich ersetzt durch typographisch transformierte Epen, Fabeln und andere kurzweilige Literatur.

Die Sammlung von Schriften für den Druck konstituierte erst Werke , die in ihrer Verbindlichkeit über individuelle Zusammenstellungen hinausgingen. Die Zusammenführung von gedruckten Büchern in Bibliotheken ermöglichte das bibliographische Referenzsystem, das die Voraussetzung jeglicher literarischer Bildung ist. Erst die eindeutige Referenz von Titel, Auflage, Band und Seitenzahl bietet die universelle Nachvollziehbarkeit und Diskutierbarkeit einer Idee. Das rapide Wachstum der Menge gedruckter Bücher kehrte die Angst der oralen und skriptographischen Kulturen um: nicht mehr das Vergessen von Informationen war zu befürchten, sondern eine Überlast, die von einer Gesellschaft kaum noch zu verarbeiten wäre.

Die technischen Medien seit 1800 (Telegraph, Photographie, Telephon, Grammophon, Fernkopierer, Film, Radio, Fernsehen usw.) sorgten für die technische Erfaßbarkeit, Speicherbarkeit und Übertragbarkeit von Texten, Bildern, Tönen und bewegten Bildern. Zum Teil bildeten sie sich als Massenmedien aus - was das Internet trotz der großen Anzahl seiner Nutzer nicht ist. Massenmedien realisieren nicht-umkehrbare one-to-many"-Kommunikationen, das Internet stellt überwiegend umkehrbare one-to-one"-Kommunikationen her. So umwälzend die technischen Medien für die gesellschaftlichen Gewohnheiten waren, sie erzeugten doch keine Medienwende, sondern ließen die Dominanz der typographischen Kultur in Kraft.

Alan Turing formulierte in seinem Aufsatz On Com puta ble Numbers, 1937, das Prinzip der Universal-Maschine. Danach kann jedes Phänomen und jeder Prozeß, der vollständig und unzweideutig beschrieben werden kann, in der einen einzigen Maschine implementiert werden, die allen Maschinen ein Ende setzt.

Claude Shannon hat 1948 in einer kleinen Schrift A Mathematical Theory of Information den Kommunikationsprozeß vollständig auf eine quantitative Grundlage gestellt. Information" ist für ihn ein statistisches Maß, das die Unvorhersagbarkeit der jeweils nächsten Botschaft einer Nachrichtenquelle erfaßt.

Diese beiden - zunächst theoretischen - Konzeptionen bilden die Grundlage für die digitale Medienwende. Sie ist in den digitalen Computernetzen praktisch geworden. Das digitale Computernetz ist gleichgültig gegen den Inhalt einer Information und sogar gleichgültig gegen menschliche Nutzer, die an möglichen, aber nicht notwendigen Mensch-Maschine-Schnittstellen Informationen eingeben oder abfragen.

Die digitale Kultur verhält sich zu den Hervorbringungen der früheren ebenso wie die skriptographische zu ihren Vorgängern: sie erlangt schnell die Dominanz und tritt in Beziehung mit den Erzeugnissen der vorhergehenden Medien, aber ersetzt sie nicht - oder nicht gleich und nicht vollständig.

Ein flüchtiger Blick ins Internet belehrt uns in dieser Hinsicht schnell: Fast alles, was gedruckt wird, ist potentiell auch in mehr oder weniger ansehnlicher Form digitalisiert und abrufbar. Das Projekt Gutenberg , das an der Hamburger Universität auch eine deutsche Filiale hat, digitalisiert copyrightfreie Bücher und bietet sie gratis im Netz an. Wer also den kompletten Shakespeare, den kompletten Wieland oder den kompletten Henry James über seinen PC ausdrucken oder in seinem Organizer spazierenfahren möchte, kann dies ohne großen Aufwand tun. Der Vorteil digitalisierter Texte liegt auf der Hand: Alle Optionen von Text- und Retrievalprogrammen lassen sich auf sie anwenden. Ein lange gesuchtes Zitat ist schnell gefunden, und fehlende Register werden dank der Möglichkeit einer Volltextsuche nicht mehr vermißt.

Handelt es sich bei den digitalisierten Texten um Lexika oder Editionsvorhaben, so ist der Text für den Suchenden und Forschenden durch den Computer viel schneller und effektiver erschließbar als in gedruckter Form. Ähnliches gilt für Bibliothekskataloge, die bisher den Schlußstein der typographischen Kultur und seines Referenzsystems bildeten. Sie sind nun in die digitale Sphäre hinübergewandert und führen dort ein erheblich effektiveres, problemloses Dasein. Den Charme des von Herzog August selbst über seine zusammengekauften und zusammengeraubten Bücher geführten Bestandskataloges, der heute noch in der Wolfenbütteler Bibliothek zu besichtigen ist und die Geschichte jedes einzelnen Buchs erzählt, haben die digitalen Kataloge nicht mehr. Sie sind überall auf der Welt verfügbar; abenteuerliche und aufwendige Bibliotheksreisen zur Sicherung wichtiger Titel eines Forschungsgebiets sind durch die Recherche vom heimischen PC und die Fernleihe via Internet überholt.

Editionen, Lexika, Kataloge: diese Teile der Buchwelt sind recht unspektakulär in die digitale Sphäre hinübergewandert. Sie dienen und nutzen dort der Buchwelt, ohne ihr ein Existenzrecht streitig zu machen. Literarische Bücher und Sachbücher hingegen finden in ihrer digitalen Gestalt auf dem Bildschirm nur wenige ernsthafte Leser. Der PC und selbst der Laptop sind in ihrer ungeschlachten Form und mit ihrer komplizierten Mechanik keine Lesegeräte. Ein Taschenbuch ist ihnen in fast allen Belangen um Dimensionen überlegen. Hin- und Herblättern, Weglegen, Wiederaufnehmen der Lektüre, lesefreundliche Umbrüche, kontrastreiche und flimmerfreie Darstellung bei höchster Auflösung, und das alles unbedroht von einem Strom- oder Akkuausfall - wirkliche Lesefreuden bietet nur das Buch. Nicht in der direkte Konkurrenz um den identischen Inhalt laufen die Bildschirmmedien dem Buch den Rang ab, sondern in der abstrakten Konkurrenz um die Verweildauer. Hier haben sie nicht nur Punkte errungen, sondern auf breiter Front gewonnen. Das Buch Emma ist das Buch zum Film - die umgekehrte Aussage, die gelegentlich trotzig herausgekehrt wird, funktionierte noch in den achtziger Jahren bei der Blechtrommel und hatte Ende der neunziger Jahre bei der Rättin von vornherein keine Chancen mehr. Die Medienkonkurrenz findet übrigens auf der aktuellen Schicht zwischen den elektronischen Medien auch wieder statt, wobei derzeit die sehr dynamische und massive Verdrängung der Couch Potato durch die Mouse Potato zu beobachten ist (35 Prozent der Internet-Nutzung werden von der Fernsehzeit abgezogen).

Die Literatur hat also im digitalen Zeitalter eine gute Chance auf eine lange, wenig beachtete Existenz neben den nun dominierenden Medien. Gleichzeitig aber werden sprachliche und schriftliche Materialien in den Computermedien vielfältigen Anwendungsproben ausgesetzt. Eine dieser Anwendungsproben ist die Internet-Literatur. Es gibt vielfältige Versuche, mit ausschließlich oder zumindest überwiegend sprachlichen Mitteln verfaßte Internet-Kunst zu erzeugen. Diese Beschränkung auf das Symbolsystem Schrift ist jedoch von der Natur des Mediums her äußerst willkürlich; man könnte fast sagen: oulipistisch - wie die Versuche, einen Roman ohne Verwendung des häufigsten Vokals e" zu schreiben.

Sprachliche Kunstwerke im Internet, sofern sie nicht schlichte und damit schlechter nutzbare Kopien von gedruckter Literatur sind, bedienen sich der interaktiven Navigationsmöglichkeiten des Hypertextes. Der Hypertext - d. h. die laienverständliche Programmiersprache HTML - ist die verbindliche Symbolsprache des World Wide Web, seine eigentliche sprachliche Basis. Wesentliche Merkmale des Hypertextes sind die mehrdirektionalen Verknüpfungsmöglichkeiten von Objekten und die Beliebigkeit der Eigenart dieser Objekte - es können alle computertechnisch darstellbaren medialen Symbolsysteme sein (Zeichnungen, Fotos, Animationen, Audio, Video). Aus den Verknüpfungen solcher verschiedenartigen Objekte entstehen hypermediale Darstellungen.

Die Charakteristika hypermedialer Kunstformen ergeben sich aus den technischen Rahmenbedingungen:

Es lohnt sich in diesem Zusammenhang, den Blick zurückzuwenden auf die Definition der Tragödie, die Aristoteles in seiner Poetik im Hinblick auf die Werkkonstitution gibt. Aristoteles schreibt:

Wir haben festgestellt, daß die Tragödie die Nachahmung einer in sich geschlossenen und ganzen Handlung ist, die eine bestimmte Größe hat; es gibt ja auch etwas Ganzes ohne nennenswerte Größe. Ein Ganzes ist, was einen Anfang, Mitte und Ende hat. Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht. Ein Ende ist umgekehrt, was selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in der Regel, während nach ihm nichts anderes mehr eintritt. Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich zieht. Demzufolge dürfen Handlungen, wenn sie gut zusammengefügt sein sollen, nicht an beliebiger Stelle einsetzen noch an beliebiger Stelle enden, sondern sie müssen sich an die genannten Grundsätze halten. 2

Diese Passage, die mir bei einer früheren Lektüre äußerst selbstverständlich und redundant vorkam, offenbart jetzt, am Ende des durch Linearität und Schriftlichkeit gekennzeichneten und zumindest in Europa 2.500 Jahre währenden Kulturabschnitts, seinen historischen Gehalt. Die Fixierung eines linearen Ablaufs war notwendig, um die Schriftgestalt einer Tragödie herzustellen, nun sind für das Internet und das digitale Fernsehen Multimediaopern in Arbeit, die jeder einzelnen aristotelischen Bestimmung widersprechen. Der Reiz der Nutzerinteraktvität bezieht sich gerade daraus, daß willkürlich an einer beliebigen Stelle eingesetzt und an einer beliebigen Stelle geendigt werden kann. Das künstlerische Material einer Oper (Libretto, Musik, Bildschirm-Choreographie" muß so organisiert sein, daß es diese willkürlichen Zugriffe erträgt und genießbar macht. Von höchstem kreativen Gehalt ist das Script, das Libretto, Musik und Choreographie zu einem mehrdimensionalen Navigationskonzept zusammenfügt. Seit der Installation von Schnittstellen, die den technischen Medien Ansätze von Interaktivität hinzufügen, ist die Linearität der Darstellung von Ideen und damit auch von Kunst nur noch eine Option.

Die Bindung von Literatur an Linearität wurde auch schon vor Existenz interaktiver elektronischer Medien infragegestellt. Immer aber kamen die Impulse aus der mechanischen Produktionssphäre, sei es bei den durch Uhrwerke beeinflußten poetischen Figuren des Barockdichters Georg Philipp Harsdörffer, sei es bei den vor allem durch den Film- und Videoschnitt beeinflußten literarischen Experimenten und Zumutungen des zwanzigsten Jahrhunderts.

Gottfried Wilhelm Leibniz beschrieb in seiner Theodizee eine Vision, die wir heute unschwer als Hypertext-System erkennen können. Theodorus wird von Pallas Athene in den Palast der Schicksalsbestimmungen geführt. Dieser stellt eine universale Datenbank dar, die auch Jupiter zuweilen aufsucht, um sich an einem Überblick über alle Dinge zu erfreuen und seine eigene Wahl zu erneuern, an der er selbst nur Wohlgefallen haben kann." Theodorus darf ein Gemach betreten, das eine ganze Welt darstellt.

In diesem Gemach befand sich ein großes Buch; Theodorus konnt sich nicht enthalten zu fragen, was es zu bedeuten habe. Das ist die Geschichte dieser Welt, in der wir uns gerade zu Besuche aufhalten, sprach die Göttin zu ihm: es ist das Buch ihrer Schicksalsbestimmungen. Auf der Stirn des Sextus sahest du eine Zahl, schlage in diesem Buch die Stelle auf, die sie angibt. Theodorus suchte sie und fand dort die Geschichte des Sextus weit ausführlicher, als er sie im Abriß gesehen hatte. Zeige mit dem Finger auf irgendeine beliebige Stelle, sprach Pallas zu ihm, und die wirst tatsächlich in allen Einzelheiten finden, was sie im Großen angibt. Er gehorchte und vor ihm erschien ein Teil aus des Sextus` Leben in allen Einzelheiten. 3

Hypertexte unterscheiden sich von linearen Texten nach einer Aufstellung von Stefan Freisler 4 in vielfacher Hinsicht:

Die entlinearisierte Darstellungsweise von Hypertexten bietet erstmalig eine Möglichkeit des durchgeführten, nicht nur skizzierten Umgangs mit mehreren gleichberechtigten Prämissen - sei es in einem philosophischen Gedankengang oder in einer story . Die lineare, typographische Darstellung erzwingt ein Nacheinander, das auch die perfekteste Montage- oder cut-up -Technik letztlich nicht auflösen kann. Es ist bei dieser Darstellung fraglich, ob die Leser die Gleichrangigkeit wirklich nachvollziehen oder nicht automatisch hierarchische oder zeitliche Bezüge herstellt.

Das Internet ist nur ein Teil des neuen digitalen Universalmediums. In ihm kommen viele Eigenarten der digitalen Kultur bislang nur schwach zur Geltung. Die zu erwartende Konvergenz der schmalbandigen interaktiven Medien und der breitbandigen Broadcastmedien wird ein integriertes Netz erzeugen, das Spielfilme ebenso transportiert wie die bibliographischen Informationen von Recherchen in Bibliothekskatalogen. Das digitale Universalmedium ist heute nur als Bildschirmmedium vorstellbar, kann aber nach dem Durchbruch neuer Spracherkennungstechniken auch eine ausschließlich akustische Variante aufweisen. In jedem Falle ist ein Rangverlust der Schriftlichkeit zu erwarten.

Eine Kultur, die sich aus Menschen mit einem durch die Dominanz von Bildschirmmedien geprägten Bewußtseinszustand zusammensetzt, hat notwendigerweise andere Wahrnehmungsweisen und Genußpraktiken als eine durch Schriftlichkeit dominierte Kultur. Angefangen von der erwiesenen Defizienz von Lektüre am Bildschirm (sprunghafter, ungenauer, weniger ausdauernd) bis hin zur Verschiebung der beim Wissenserwerb auftretenden Beanspruchungen von Regionen in der Gehirntopologie erfährt die literarische Bildung Attacken auf ihre Grundfesten, denen sie nicht wird standhalten können. Die Erringung von Medienkompetenz, die digitale Alphabetisierung also, wird von einem längeren Abschiednehmen begleitet sein. Ob dieses noch einmal wie bei Platon, der die Errungenschaften der Oralität gegen die Schriftlichkeit verteidigen wollte, oder bei vielen Kritikern der typographischen Wende die Gestalt zorniger Klagen annehmen muß, bleibt dahingestellt.

Welches Schicksal erwartet die Literatur unter diesen Auspizien? Der Blick auf die Geschichte der früheren Medienwenden belehrt darüber, daß es sehr lange Koexistenzen von ehemals dominanten medialen Formen mit den neuen Formen geben kann. Giordano Bruno pflegte die Gedächtniskunst noch 2.000 Jahre nach ihrer Ablösung durch schriftliche Aufzeichnungen und wurde in den Flammentod geschickt, weil er eine Druckschrift nicht vom Buchmarkt nehmen und widerrufen wollte.

Die Literatur des Typographeums hat neben dem neuen Medium Bestand und mutiert nicht automatisch zur Netz-Literatur. Sie profitiert sogar von ihm durch bequemere Nutzbarkeit. Andererseits erleidet das Trägermedium der Literatur einen Bedeutungsverlust durch die Durchsetzung eines neuen Leitmediums. Der Medien- und Wirklichkeitsbezug, der jahrhundertelang an das Buch gekoppelt war, beginnt sich vom Typographeum abzulösen und geht auf die elektronischen Medien über. Antworten auf Fragen an die Wirklichkeit (die tatsächlich immer an Medien gestellt werden), werden nicht mehr nur vom Buch beantwortet, sondern von einem Bildschirmmedium. Mit den Informationserwartungen wandern auch die Genußerwartungen auf andere Medien über.

Das Buch als Veranstaltungsform hat zwar nicht alle interaktiven Eigenschaften der elektronischen Medien, es ist aber kein ausschließliches Push -Medium wie der analoge Hörfunk oder das analoge Fernsehen. Gegenüber ideenlosen modernen Medien formaten kann ein gutes Buch sicher allemal bestehen. Allerdings werden sich die literarischen Formen, auch die traditioneller typographischer Produkte, den verwandelten Umgebungsbedingungen für die literarische Produktion nicht entziehen können. Neue literarische Formen lassen sich nicht prognostizieren, aber vielleicht ist der Hinweis auf die Erfahrungen mit Film, Funk und Fernsehen erlaubt. Diese technischen Medien haben jeweils in doppelter Hinsicht verändernd auf die literarische Produktion eingewirkt. Sie benötigten zum einen Texte, Drehbücher, Scripts für ihre Inhalte, also die Literatur in einer dienenden oder korrespondierenden Funktion. Sie beeinflußten zum anderen eine Vielzahl von literarischen Formentwicklungen, die in den Werken von Dos Passos und Faulkner, Döblin und Johnson, Burroughs, Beckett und vielen anderen heute kanonisch sind.

Wirken die digitalen Medien verändernd auf die Literatur und ihre Gattungen ein? Die Gewichtsverschiebung vom textlichen zum bildlichen Bedeutungsträger, die Bedeutung des Faktors Zeit für die Dramaturgie und die Nutzung von künstlerischen Angeboten, die neue Rollenverteilung zwischen Autor und Rezipient, neue wirkungsästhetische Dimensionen durch Interaktivität und Selektion - diese heute schon erkennbaren Faktoren werden die Literaturproduktion beeinflussen. Der Kanon der Bücher, die man gelesen haben muß, wird sich auflösen. Das Buch der Bücher ist eine Idee der Vergangenheit, an deren Stelle die Realität des Computernetzes getreten ist.


1. Vgl. Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1991.

2. Aristoteles, Poetik . Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 25.

3. Georg Wilhelm Leibniz, Theodizee , Hamburg, S. 410.

4. Stefan Freisler, Hypertext - Eine Begriffsbestimmung", Deutsche Sprache 1 , 1994, S. 19-50.